Bücher nehmen uns mit auf eine Reise in unsere Fantasie.

Unsere Buchempfehlungen

Milena Michiko Flašar:                 Oben Erde unten Himmel

Wagenbach Verlag, 2023

Zum Auftakt des Romans schlägt das Schicksal der schüchternen, etwas in sich gekehrten Protagonistin, der 25-Jährigen Japanerin Suzu, gleich zweimal kurz hintereinander zu. Sie verliert ihren Job als Hilfskellnerin und kurz darauf wird sie von ihrem Partner geghostet, steht also mit 25- als arbeitslose Single mit Hamster da.

Ihr Verantwortungsbewusstsein gegenüber Punsuke dem Hamster, lässt sie auf Stellensuche gehen. Sie bewirbt sich als Reinigungskraft bei Mr. Sakai, ohne jedoch zu wissen, dass er sich auf Kodokushi-Fälle, also Tote und deren Leichenfundorte wie auch deren Wohnungen oder Häsuer spezialisiert hat. Im Buch begleiten wir sie auf dem neuen Weg, lernen sie und ihre Geschichte besser kennen. Wir erfahren wie Grenzen verschwimmen, wie Suzu sich plötzlich viel weniger einsam fühlt.

Milena Flasar gelingt es auf grossartige Weise, das heikle Thema von Tod und Abschied manchmal witzig, manchmal zum Nachdenken anregend zu beschreiben. Milena Michiko Flasars Ausdruck ist von einer ansprechenden Klarheit, von einer Frische, welche dem schwierigen Thema alle Ehre macht. Was eigentlich sehr düster hätte werden können, bleibt leicht, einfühlsam und ist wirklich lesenswert.

Amy Renda

 

Simone Atangana Bekono:                Salomés Zorn

C.H.Beck Verlag, 2023

Die Geschichte spielt in den Niederlanden, wo die Jugendliche Salome eine unkontrollierbare Wut in sich hat. Nach jahrelang still erduldetem Rassismus (die Familie stammt aus Kamerun), nach Mobbing und Frust wehrt sie sich auf einmal mit einer solchen Vehemenz, dass Sie dafür in das Jugendgefängnis kommt und so an den Rand der Gesellschaft rutscht. Vom ursprünglichen Wesen der einst brillanten Schülerin, die griechisch büffelte, Mythologie und Bücher liebte und studieren wollte, ist plötzlich nicht mehr viel übrig.

Im Gefängnis soll sie psychologische Hilfe erhalten, trifft dort ausgerechnet auf einen Therapeuten, der bei einer Trash Fernsehshow „Hello Jungle“ mitmachte und sich dort sehr herablassend über Afrika äusserte. Ihr Aussenseitertum verstärkt sich weiter und sie wendet sich nach innen. Durchlebt in Gedanken ihre Geschichte noch einmal, man lernt ihre Familie kennen und die Schwierigkeit, zwischen zwei Kulturen zu leben.

Die Sprache ist rauh, tiefsinnig und bildhaft zugleich. Die Geschichte könnte genauso gut in einem anderen Land spielen, denn das Thema von Mobbing und Fremdenhass ist leider universell.

Amy Renda

 

Sybille Hein: Eure Leben, lebt sie alle

dtv Verlag, 2022

Fünf Frauen treffen sich am Grab von Jonas Kiekhöfel. Der junge Musiker war mit seinem Motorrad gegen einen Baum gerast. Jede dieser Frauen verbindet eine Geschichte mit ihm.

Zwanzig Jahre später: Jonas Mutter Marianne,  noch rüstig und selbständig, kommt noch immer nicht mit ihrem schlechten Gewissen und der Trauer zurecht, und versucht  durch Vergessen einen Ausweg zu finden.

Louise, inzwischen verheiratet mit einem Anwalt und Mutter zweier Kinder, möchte alle im Griff haben und bestimmen, bis alles aus dem Ruder läuft.  Sie zeigt sich gerne in der Opferrolle.

Ellen, Psychologin, verheiratet mit Gregor, hat ebenfalls zwei Kinder und hatte vor Jahren eine Band mit Jonas, der dann kurz vor ihrer grossen Tournee verunglückte. Sie versucht ein Comeback mit alten und neuen Liedern.

Friedericke, Lektorin, hatte eine Affäre mit Jonas, wurde schwanger, verlor das Kind aber. Sie ist noch immer sehr verbunden mit ihm und hütet Bücher und Gegenstände, die er damals bei ihr zurückgelassen hatte.

Johanna, Jonas letzte Lebensgefährtin befindet sich derzeit, nach einem vermeintlichen Selbstmordversuch, ev. unter Drogen,  in einer Klinik.

All diese Frauen stehen immer noch in Kontakt miteinander, teils freundschaftlich sehr verbunden. Alle befinden sich an einem Wendepunkt in ihrem Leben, versuchen Verdrängtes zu verarbeiten, sich selbst zu finden und wagen einen Neuanfang.

Diese Geschichte ist mit viel Humor und Augenzwinkern erzählt, kurzweilig zu lesen, und bietet doch auch viel Stoff zum Nachdenken.

Edith Oertig

 

Doris Knecht, Die Nachricht

Hanser Berlin, 2021

Ruth lebt nach dem Tod ihres Mannes mit einem ihrer Söhne in einem Haus auf dem Land. Hier war ihre Familie einmal glücklich. Sie schrieb Drehbücher fürs Fernsehen, ihr Mann Ludwig arbeitete als Tischler. Allmählich hat sie sich ans Alleinsein gewöhnt, ja es schätzen gelernt.

Eines Tages erhält sie eine anonyme Nachricht von jemandem, der vermeintlich Dinge aus ihrer Vergangenheit weiss, die sie nicht kennt. Dieser Stalker belästigt sie mit immer neuen, immer dreisteren und sexistischen Anschuldigungen, die sie verunsichern und ihr Angst einjagen. Er verschickt diese Mails auch an Freunde und Bekannte von Ruth. Diese beginnen an ihrer Integrität und Aufrichtigkeit zu zweifeln  und gehen auf Distanz.

Ein spannender Roman über den alltäglichen Wahnsinn in den sozialen Medien, dem viele  Frauen (nicht nur) ausgesetzt sind. Leicht und virtuos geschrieben.

Edith Oertig

 

Alina Bronsky, Barbara stirbt nicht

Kiepenheuer & Witsch, 2021

Walter Schmidt, ein Mann alter Schule, ist irritiert: es duftet in ihrem Schlafzimmer nicht nach Kaffee - seine Frau Barbara muss also verschlafen haben oder ist tot. Aber nein, ihr Bett ist leer.

Walter steht auf, um nach ihr zu sehen und stolpert vor dem Bad über ihre Füsse. Barbara ist gestürzt und liegt verletzt am Boden. Er hilft ihr ins Bett, wo sie die nächsten Monate bleiben wird, aber davon, weiss Walter noch nichts. Ihm fehlt jetzt sein Kaffee und als auch Barbara einen haben möchte, gerät er in arge Not: er hat noch selber einen Kaffee gekocht, geschweige denn überhaupt etwas in der Küche oder im Haushalt gemacht. Sie hatten immer klare Aufgabenteilung. Er sorgte für das Einkommen, sie kümmert sich um Haus und Kinder.

Für Walter beginnt nun eine abenteuerliche Zeit. Er muss sich mit Küche und Haushalt vertraut machen (Barbaras Reich), lernt kochen über eine Internetcommunity (Barbaras Account), macht Bekanntschaften (Barbaras Freunde) und backt Kuchen für eine wohltätige Organisation (Barbara macht dort Freiwilligenarbeit). Und was macht Barbara? "liegt krank im Bett und isst viel zu wenig um zu Kräften zu kommen."

Die Geschichte beschreibt urkomisch eine Beziehung, wie sie wohl auch heute noch zu finden ist, mit klarer Rollenverteilung. Doch, was wenn das Leben nicht mehr mitspielt? Wenn alles durcheinander gerät? Alina Bronsky nimmt Walter aus seiner Komfortzone und schickt ihn im freien Fall durch einen einst wohlgeordneten Alltag, in welchem sich Kopfschütteln, schmunzeln und Melancholie ablösen.

Auch in diesem Roman, wie schon bei Ihren früheren, konfrontiert die Autorin uns Lesende mit einem etwas schrägen Protagonisten, den man anfänglich ungläubig betrachtet, um ihn am Ende ins Herz zu schliessen.

Brigitta Häderli

 

Alex Schulmann, Die Überlebenden

dtv, 2021

Die Brüder Benjamin, Pierre und Nils treffen sich nach dem Tod ihrer Mutter um, so ihr Wunsch, ihre Asche im See zu verstreuen, an dem sie all ihre Sommer verbracht hatten. Es wird eine Reise zurück in die unvergleichliche Natur und eine Reise in die Vergangenheit. Wie konnte es geschehen,  dass sie sich über die Jahre so weit von einander entfernt haben, sich so fremd geworden sind ?

Mit bangem Herzen fahren die drei zurück an den Ort Ihrer Kindheit. Damals hatten sie in einem stetigen Kampf um die Aufmerksamkeit und Liebe ihrer Mutter gekämpft, die launisch, grob und doch manchmal sehr zärtlich sein konnte.

Das Buch lässt uns eintauchen in einen Sommer in der unberührten Natur Skandinaviens, sehr stimmig und berührend. Dem Autor gelingt es den Leser mit einer klaren, knappen Sprache zu fesseln.

Edith Oertig

 

Clemens Murath, Der Libanese

Heyne Verlag, 2021

Der Libanese  ist ein Kriminalroman den man als "Milieustudie mit Verbrechenshintergrund" beschreiben könnte.

Frank Bosman und sein Kollege Schuster vom LKA ermitteln im Berliner Milieu. Es geht um Drogen, Geld, Erpressung und einen Mord. Beteiligt sind zwei konkurrierende Clans aus dem Libanon und Albanien, Prostituierte, Dealer, Banker, ein Filmproduzent, Süchtige, Kleinkriminelle und Stricher. Auch die LKA-Chefs und die interne Abteilung machen Bosman und Schuster das Leben schwer. Dabei sind sie selbst auch nicht gerade vorbildlich und über jeden Zweifel erhaben. Informanten wollen schliesslich bezahlt werden und von irgendwo muss die Kohle ja herkommen…

Diese Mischung macht die Story vielfältig, bunt und interessant. Besonders witzig fand ich das Erpressertrio bestehend aus einem Dealer, einem Nazi und einem Yogalehrer. Keine der Personen ist grundgut oder abgrundtief böse. Statt schwarzweiss sind Graustufen angesagt. Die eigentlichen Verbrechen und Vergehen treten dabei schon fast in den Hintergrund. Der Leser fühlt mit (fast) allen Protagonisten, kann Handlungen und Beweggründe nachvollziehen und fiebert mal mit dem einen oder der anderen mit.

Die Sprache ist einfach und klar, passt zu den Personen und zum Thema. Das Buch liest sich süffig und macht Spass. Das Ende, das eigentlich gar keines ist, lässt auf weitere Folgen hoffen.

Barbara Imholz

 

Kati Naumann, Wo wir Kinder waren

HarperCollins Verlag, 2021

Jan und seine zwei Cousinen Eva und Iris räumen das Haus, das über mehrere Generationen ihrer Familie gehört hat. Sie sind Teil einer zerstrittenen Erbengemeinschaft. Mit den Dingen, die sie in die Hand nehmen, werden Erinnerungen wach und führen die Protagonisten zurück in die Vergangenheit, in die Blütezeit der deutschen Spielzeugherstellung.

Die Geschichte beginnt 1910  mit der Gründung der Puppenfabrik von Albert Langbein, in Sonneberg in Thüringen. Schwere Schicksalsschläge muss die Familie und der Betrieb im Laufe der Jahre hinnehmen und sich immer wieder zusammenraufen: Die Weimarer Republik, den 1. und 2. Weltkrieg, die Teilung Deutschland und die Verstaatlichung in der DDR - Nur die Wiedervereinigung nicht.

Die Autorin Kati Naumann stammt ebenfalls aus einer Familie von Spielzeugfabrikanten aus Sonneberg. Dadurch konnte sie ihre eigenen Erinnerungen und die historische Genauigkeit ihrer Vorfahren bildhaft und eindrücklich in die fiktive Geschichte der Langbeins einfliessen lassen.

Ein grossartiger Generationenroman, in dem man am liebsten wieder Kind sein möchte, um als Spielzeugtester fungieren zu können.

Jacqueline Rutishauser-Eschenmoser

 

Alaa Al-Aswani, Die Republik der Träumer

Hanser Verlag, 2021

Am 25. Januar 2011 strömen in Ägypten 25'000 Menschen auf die Strasse, um gegen das Regime von Muhammad Husni Mubarak zu protestieren, dem Korruption und Amtsmissbrauch vorgeworfen wird.

Sie träumen von der grossen Veränderung. Doch während in der Menge Liebesbeziehungen aufblühen, wird der Bürgerrechtler Khaled vor den Augen aller kaltblütig erschossen. Seine Freundin Dania fordert Gerechtigkeit und geht in den Widerstand. Ausgerechnet sie, die Tochter aus wohlhabendem Haus, deren Vater Chef des Geheimdienstes ist und deren Familie streng religiös lebt.

Der Leser lernt in diesem Roman ein Dutzend Protagonisten aus verschiedenen Gesellschaftsschichten und Religionen kennen, die in irgendeiner Form beteiligt sind. Einige von ihnen sehnen die Freiheit herbei, während die Anderen alles daran setzen, um dies zu verhindern und zwar mit allen Mitteln.

Mit "Die Republik der Träumer" ist dem Ägypter Alaa al-Aswani ein schonungsloser, brutal realer Roman gelungen. Die Geschichte hatte für mich einen Sog, dem ich mich nicht entziehen konnte.

Dieses Buch während des nächsten Ägyptenurlaubs zu lesen, wäre eine schlechte Idee - es ist dort verboten und wird mit Gefängnis geahndet.

Jacqueline Rutishauser-Eschenmoser

 

Julia Phillips, Das Verschwinden der Erde

DTV Verlag, 2021

An einem Sommertag an der Küste der Kleinstadt Petropawlowsk auf der Halbinsel Kamtschatka verschwinden die russischen Schwestern Sofija und Aljona. Was ist mit ihnen passiert? Eine Spaziergängerin hat angeblich zwei Mädchen und einen Mann in einem Auto gesehen, aber ganz sicher ist sie sich nicht. Monate zuvor ist bereits Lilja, ein Evenenmädchen, verschwunden.

Dieser Einstieg bildet den roten Faden, der sich durch den Roman zieht. In zwölf Kapiteln wird  erzählt, wie das Verschwinden der drei sich vor allem auf das Leben von Mädchen und Frauen auswirkt. Da ist Olja, deren Mutter den ganzen Tag arbeitet und die meist unbeaufsichtigt ist. Plötzlich verbietet die Mutter ihrer Freundin Diana den Kontakt: der Umgang mit ihr sei gefährlich. Oder Ksjuscha, sie ist Evenin, lebet und studiert in Petropawlowsk.  Ihr Freund Roslan wohnt in Esso und hält ständig Verbindung mit ihr per Handy und kontrolliert sie.

Zwölf Frauenschicksale auf Kamtschatka. Kaleidoskopartig blickt man in deren Leben. Zunächst scheinen die Geschichten unzusammenhängend. Doch immer wieder ergeben sich Verbindungen und Gemeinsamkeiten, die sich allmählich  miteinander verknüpfen und auf ein unerwartetes Ende zulaufen.

Kamtschatka: Korjaken, Aleuten und Ewenen machen nur noch wenige Prozent der Bevölkerung aus, die Mehrheit sind Russen. Das Leben dort ist schwierig - zwischen Tradition und Moderne. Julia Philipps hat selbst ein Jahr auf Kamtschatka gelebt und dort studiert. Wie sehr ihr Land und Leute ans Herz gewachsen sind spürt man in jeder Zeile ihres Debüts. Und sie bringt uns diese weit abgelegene Region, die bis 1990 für Touristen gesperrt war, auf eine spannende und ungewöhnliche Art näher.

Brigitta Häderli

 

Tove Ditlevsen, Kindheit

Hanser Verlag, 2021

Die Autorin wächst in ärmlichen Verhältnissen in Kopenhagen auf. Ihr Vater wird nach der Weltwirtschaftskrise arbeitslos. Doch die Situation ist für die ganze Familie mit Scham behaftet. Sie leben teilweise tagelang von Kaffee und altem Gebäck, das der Bäcker jeweils am Sonntag verteilt. Ihre Mutter hätte sich ein anderes Leben gewünscht und versucht die Fassade aufrecht zu erhalten. Sie erzählt jedem der zuhört, dass Tove schon lesen und schreiben kann, obwohl sie erst eingeschult wird: «Auch arme Kinder können Grips haben»!

Tove ist eine leidenschaftliche Leserin. Vom Vater darin unterstützt, wird sie in ihrer Umgebung jedoch schon früh zur Aussenseiterin. Sie fühlt sich nirgends akzeptiert, ist anders und zieht sich immer mehr zurück. Sie schreibt Gedichte und träumt sich in eine andere Welt, wo sie ihren Wunsch, Schriftstellerin zu werden, umsetzen kann. Aber ihr Vater sagt klar: «Nur Männer können das.» Sie leidet unter ihrer Herkunft, sehnt sich nach Liebe und Anerkennung ihrer Mutter, die sie immer wieder zurückweist. Die beengten Verhältnisse und das Unverständnis ihrer Umgebung setzen ihr zu.

Kindheit ist der Auftakt zur «Kopenhagener Trilogie», die erstmals auf Deutsch erscheint. Der erste Band zeigt die Kindheit, Jugend und das Erwachsensein einer Frau in den zwanziger Jahren, die sich emanzipiert und ein selbstbestimmtes Leben wählt. Sie bricht aus ihrer Umgebung aus, überwindet Barrieren, radikal und mutig.

In Dänemark war Tove Ditlevsen eine gefeierte Autorin, die ihr Leben nach ihren Vorstellungen gestaltete, mit Erfolg und vielen Rückschlägen. Sie wählte 1977 den Freitod.

Edith Oertig

 

Monika Helfer, Vati

Hanser Verlag, 2021

Monika Helfers Vater ist als Bauernbub in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Er kommt schon früh durch einen Kameraden an die Bibliothek dessen Vaters und beginnt dort ganze Bücher abzuschreiben. Er hatte sich, schon bevor er in die Schule kam, das Lesen selber beigebracht. Bücher werden in seinem ganzen Leben eine grosse Rolle spielen.

Als 19-jähriger in den Krieg eingezogen, wird er verwundet und verliert ein Bein. Im Lazarett lernt er seine zukünftige Frau (Monika Helfers Mutter) kennen, die ihm einen Heiratsantrag macht. Er wäre dazu viel zu schüchtern gewesen. Nach dem Krieg leitet er ein Kriegsopfererholungsheim auf der Tschengla, einem Hochplateau oberhalb von Bludenz. Dort verbringt auch Monika mit ihren Geschwistern einen Teil ihrer Kindheit. Von einem süddeutschen Professor, dessen Sohn sich über längere Zeit dort aufhält, erhält er aus Dankbarkeit eine grosse Bibliothek gespendet, die sein weiteres Leben schicksalshaft bestimmen wird. Nach dem frühen Tod von Monikas Mutter taucht der Vater ab. Die Kinder sehen ihn jahrelang nicht mehr, und werden bei Verwandten untergebracht.

Monika Helfer versteht es, sich ihrem Vater von verschiedenen Seiten zu nähern. Mit kleinen Geschichten und Episoden, teils skurril, versucht sie Leerstellen zu füllen. Aber erst mit Hilfe seiner zweiten Frau gelingt es ihr ein Gesamtbild zu erhalten. Vati ist ein sehr empathisches Buch über ihren Vater, aber auch über eine ganze Generation von Kriegsheimkehrern, die in Schweigen verfallen sind.

Edith Oertig

 

 

Charlotte McConaghy, Zugvögel

S. Fischer Verlag, 2020

"Die Tiere sterben. Bald sind wir hier ganz allein. Damals hat mein Mann eine Kolonie Sturmschwalben entdeckt, an der felsigen Küste des unbezähmbaren Atlantiks. In der Nacht, als er mich dorthin mitnahm, wusste ich noch nicht, dass sie zu den Letzten ihrer Art gehörten." So beginnt der Roman um Franny, eine Ornithologin, die ihr ganzes Leben am Meer verbracht hat. Franny weiss, sie muss diesen letzten Sturmschwalben auf ihrer grossen Reise vom Nordatlantik bis in die Antarktis folgen.

Für die Reise sucht sie sich eines der wenigen noch auf dem Meer fahrenden Fischerboote aus, die Saghani (Rabe), und mit ihr eine etwas exzentrische Crew - ein bunter Haufen Männer und eine Frau. Aber alle sind bereit, den mit Peilsendern versehenen Vögel zu folgen, nicht wissend, dass sie mit einer verurteilten Mörderin reisen...

Ja, dies ist ein Roman, kein Thriller, sondern sprachlich schön und spannend, mit einer Heldin auf der Suche nach den letzten Vögeln, wohl  aber vielmehr nach sich selber.

Ich bin Franny Stone auf ihrem Weg in den Süden gerne gefolgt und habe erst noch einiges über Sturmschwalben gelernt.

Brigitta Häderli

 

Urs Faes, Untertags

Suhrkamp Verlag, 2020

Herta und Jakov lernen sich spät in ihrem Leben kennen. Beide haben eine Ehe mit je zwei Kindern hinter sich. In ihrer neuen Beziehung, auf Reisen in Jakovs Heimat Wyoming und im Alltag finden sie zu einer Zuneigung und einem ungeahnten Glück zusammen.

Doch im Alter wird Jakovs Gedächtnis zunehmend lückenhaft; jeden Morgen fehlen ihm wieder einige Worte, wie er selbst sagt. Er lebt zunehmend «untertags», in einer verdrängten und verschütteten Welt. Er lebt in einer Welt voller Ereignissen und heftigen Gefühlen, von denen er nie gesprochen hat, und von Virginie, seiner ersten Liebe. Herta fühlt sich betrogen, empfindet sich als Ersatz für diese alte Liebe und ist verletzt. Sie findet aber doch zurück,  um mit Verständnis  und Liebe Jakov bis zu seinem Lebensende zu begleiten.

Urs Faes gelingt es, uns dieses schwierige Thema, das Abschiednehmen, mit viel Sensibilität und Empathie näher zu bringen.

Edith Oertig

 

Frédérick Zwicker, Radost

Zytglogge Verlag, 2020

Fabian gewinnt bei einem Wettbewerb eine Reise nach Sansibar, die er eher widerwillig antritt. Dort begegnet er im einer Strandbar dem Schweizer Max, in Massai-Kostüm, der aufgeregt spricht und Witze erzählt. Kurze Zeit später findet er diesen verwundet am Strand und bringt ihn ins Spital.

Wieder zuhause in Rapperswil begegnen sich die beiden Monate später erneut und freunden sich an. Dabei erfährt Fabian von Maxs manisch-depressiver Erkrankung und seinen Schwierigkeiten im Alltag.  Max fragt ihn, ob er nicht seine Biographie schreiben würde. Max stammt aus gutem Hause, ist finanziell abgesichert und macht Fabian ein verlockendes Angebot. Fabian, der als Journalist eher gelangweilt bei einer Lokalzeitung arbeitet und sein Leben zuhause auf dem Sofa absitzt, schlägt sofort ein.

Nach diversen Nachforschungen und Gesprächen in der Heimat begibt sich Fabian auf Max Spuren per Fahrrad nach Zagreb, wo dieser mehrere Jahre gelebt hat…

Ein Buch über die psychische Zerbrechlichkeit eines Mensch und das Leben, trotzdem leicht und mit viel Witz erzählt.

P.S. «Radost» bedeutet auf kroatisch «Freude»

Edith Oertig

 

Joachim B. Schmidt: Kalmann

Diogenes Verlag 2020

Kalmann ist der Sheriff von Raufarhöfn im Norden Islands. Sein Vater, ein amerikanischer Soldat, der in Island stationiert war, hat ihm einen Waffengurt, einen Sheriffstern, einen Sheriffhut und eine Mauser vererbt. So begibt er sich, wenn nicht gerade ein Schneesturm tobt, aus dem Haus. Alles was Kalmann kann und weiss, hat ihm sein Grossvater beigebracht, bei dem er auch aufgewachsen ist. In der Schule hatte er das meiste schon bald wieder vergessen, dafür kann er das Wetter voraussehen, die Natur lesen, jagen und vor allem Haie fangen. Aus dem Haifischfleisch stellt er, nach Grossvaters Rezept, Gammelhai her, eine isländische Spezialität.

Nachdem sein Grossvater ins Altersheim musste und seine Mutter im Nahen Akureyri im Spital arbeitet, lebt Kalmann allein, und streift fast jeden Tag durch die Hügel um Raufarhöfn. Auf einem dieser Streifzüge durch die winterliche Einöde, auf der Fährte eines Polarfuchses, trifft er auf menschliche Blutspuren. Kurz darauf erfährt der, dass Robert McKenzie, der König von Raufarhöfn, dem das im Ort gelegene Hotel und alle Fischereirechte gehören, vermisst wird.

Die Polizei aus Reykjavik wird eingeschaltet und mit grossem Polizeiaufgebot, Schiffen und Hubschraubern wird nach dem Vermissten gesucht und ermittelt. Die anwesende Kommissarin bringt viel Unruhe in den verschlafenen Ort. Auch Kalmann, dessen Kopf ganz durcheinander kommt, ist in die Untersuchungen involviert…

Ein unterhaltsamer Roman, in dem man nebenher viel über das Leben in Island, die Landflucht und die Fischerei erfährt.

Edith Oertig

 

Andreas Izquierdo: Schatten der Welt

Der Audio Verlag, 2020

Thorn in Westpreussen 1910

Carl, der schüchterne Sohn von Schneider Friedländer, soll einmal dessen Schneiderwerkstatt übernehmen, doch er träumt davon Fotograf zu werden. Sein Freund Artur, stark und gross wie ein Bär, will nur eines, möglichst schnell und viel Geld verdienen, um was besseres als sein Vater zu werden und ein Leben lang Fuhrwerke reparieren zu müssen. Er ist ein Schlitzohr voller Ideen und als der Komet Halley übers Firmament zieht, läuft sein Geschäftssinn zu Hochform auf. Zusammen mit der ebenso schönen, wie frechen Isi verkaufen die drei Pillen gegen den Weltuntergang und verdienen genug Geld um ihre Träume wahr werden zu lassen. Aber da ist auch  Falk Beusen, der mit Isi eine Rechnung offen hat. Und auch Beusens Vater, ein Grossgrundbesitzer und Herr über Leben und Tod in Thorn, sind die Emporkömmlinge ein Dorn im Auge.

Als 1914 der Weltkrieg ausbricht, reißt es die Freunde auseinander. Artur und Carl werden eingezogen, fernab der Heimat werden die beiden Teil eines Kriegs, der jede Vorstellungskraft sprengt. Derweil hat Isi zuhause in Thorn ganz andere Kämpfe auszufechten.

›Schatten der Welt‹ ist ein Abenteuerroman, eine Coming-of-Age-Geschichte und zugleich ein spannender  Roman, der ein hervorragendes Bild Preußens zur Zeit Wilhelms II vermittelt. Vor allem aber wachsen einem die vom Autor sehr liebevoll gezeichneten Figuren Carl, Artur und Isi mit all ihren Träumen und Hoffnungen ans Herz. Sie sind Kämpfernaturen, die sich nicht unterkriegen lassen. Ich habe Schatten der Welt als Hörbuch genossen. Uve Teschner liest wunderbar und in sehr einfühlsamer Weise. Ich habe ihm, wie schon so oft, gerne zugehört.

Brigitta Häderli

Uta Seeburg: Der falsche Preusse

Harper Collins Verlag 2020

München 1894

Der preussische Offizier Wilhelm von Gryszinski hat vor kurzem ein Posten als Sonderermittler in der Hauptstadt von Bayern angetreten. Das neue Jahrhundert ist nicht mehr weit und bietet neue Errungenschaften wie den Fingerabdruck oder die Spurensicherung an einem Tatort.

Am Ufer der Isar wird eine Leiche entdeckt, eingehüllt in einen kostbaren Federumhang. Daneben finden die Ermittler den Fussabdruck eines Elefanten. Die Spur führt Gryszinski zu seinem preussischen Landsmann Eduard Lemke, der es auf verschlungenen Wegen zu sagenhaftem Reichtum gebracht hat. Bald wird Lemke zum Grössten Widersacher des Polizisten, denn längst geht es nicht mehr nur um Mord, sondern auch um Hochverrat an Gryszinskis geliebten Heimatland Preussen. Sehr spannend!

Jacqueline Rutishauser-Eschenmoser

 

Sue Monk Kidd: Das Buch Ana

btb Verlag, 2020

Das Buch Ana ist eine fiktive Lebensgeschichte von Jesus' Ehefrau, welche die Autorin dem Gottessohn zur Seite gestellt hat.

Die Erzählung beginnt 16 n. Chr. im von den Römern besetzten Galiläa. Die 14-jährige Ana soll an den älteren Wittwer Nathanael verheiratet werden.  Ana ist ein kluges Mädchen, mit messerscharfem Verstand, die von ihrem Vater das Schreiben und Lesen gelernt hat. Ana studiert die Thora und beginnt heimlich die Geschichten der vergessenen Frauen der Heiligen Schrift aufzuschreiben und auch das Leid, welches den Frauen in ihrem Umfeld widerfahren ist. Einzig ihre Tante und der treue Diener wissen über Anas Geheimnis Bescheid.

Ana merkt bald, dass sie sich ihrem Vater nicht widersetzen kann und willigt in die Heirat ein. Auf dem Markt trifft Ana den Zimmermannssohn Jesus, der nach dem Tod seines Vaters für die Familie sorgen muss. Bis sie zueinander finden, muss Ana jedoch einige Hürden überwinden.

Die Autorin Sue Monk Kidd schafft mit dieser inszenierten historischen Geschichte einen nahezu perfekten Roman um eine junge Frau, die zwar fiktiv ist, aber so existiert haben könnte.  Erst war ich, was die Thematik betrifft eher skeptisch, wollte dem Buch aber eine Chance geben, da ich die Bücher von Sue Monk Kidd liebe. Ich habe diese Entscheidung auf keiner der 576 Seiten bereut.

Jacqueline Rutishauser-Eschenmoser

 

Victoria Mas: Die Tanzenden

Piper Verlag, 2020

Paris1885 Nervenheilanstalt Salpêtrière

Drei Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten:

  • Louise ist Patientin und Versuchsobjekt des hoch geachteten und von allen angehimmelten Professor Charcot.
  • Geneviève, die Oberaufseherin der Anstalt und Tochter eines Arztes, schreibt Briefe an ihre vor langer Zeit verstorbenen Schwester Blandine.
  • Eugénie, Tochter aus wohlhabendem Haus, besitzt die Gabe sich mit Verstorbenen zu verständigen. Als sie sich ihrer engsten Vertrauten, ihrer Grossmutter, ihr Geheimnis gesteht, wird sie von ihr verraten. Um den Familiennamen nicht zu beschmutzten liefert die Familie das Mädchen in die Anstalt für geistesgestörte Frauen ein.

Der alljährliche Ball der Salpêtrière steht an, ein grosses Ereignis, bei dem die "Irren" vor der Öffentlichkeit auftreten dürfen. Als sich Eugénie der Aufseherin anvertraut, nimmt die Geschichte einen Verlauf, mit dem niemand gerechnet hat.

Einfühlsam erzählt Victoria Mas von der  brutalen Art und Weise, wie Frauen damals weggesperrt wurden, weil sie sich aufmüpfig verhielten und sich den Männern nicht  unterordnen wollten. Ein wunderbares Buch über Hoffnung, Mut und Freundschaft, das ich verschlungen habe.

Jacqueline Rutishauser-Eschenmoser

 

Robert Seethaler: Der letzte Satz

Hanser Verlag, 2020

Gustav Mahler ist bereits todkrank als er auf der «Amerika» aus den USA nach Europa zurückreist. In New York war er ab 1907 tätig, seit 1909 als Chefdirigent der «New York Philharmoniker», mit denen er Weltruhm erlangte.

Es sind nur wenige Stunden auf See, er sitzt eingehüllt in Decken am Bug des Schiffes, abgeschottet von den andern Passagieren und wird von einem Schiffsjungen mit Tee versorgt. Es ist still, nur die Schiffsmotoren sind zu hören, die Sonne geht auf und er denkt über sein Leben nach. Seine schwierige Ehe mit seiner schönen Alma, dem Tod seiner kleinen Tochter Maria und auch über seine vergangenen Sommer in seinem Komponierhäuschen in Toblach am Wörthersee,  wo er umgeben von Natur und Bäumen ganz in seine Musik versunken war. Dort vollendete er auch seine 9. Sinfonie, deren Uraufführung er nicht mehr miterlebte.

In einer klaren, nüchternen Sprache bringt und Robert Seethaler das Leben und Werk in seinem kleinen Roman näher.

Edith Oertig

Amigorena, Santiago: Kein Ort ist fern genug

Roman, Aufbau Verlag, 2020

Der Autor erzählt die Geschichte seines Grossvaters Vincente Rosenberg, der in den zwanziger Jahren aus Warschau nach Buenos Aires ausgewandert war. Zum einen flieht er vor seiner Mutter, die ihn einengt, zum andern verschlechtert sich die politische Lage im Land zusehends.

In Argentinien verliebt sich der charmante, junge Mann in Rosita, deren Eltern ebenfalls aus Europa stammen. Ihr Vater besitzt eine Möbelfabrik und einen Möbelladen, den er Vincente als Lebensgrundlage überlässt. Die jungen Leute heiraten und gründen eine Familie. Das Leben könnte glücklich sein, wäre da nicht die Tatsache, dass er seine Mutter und seinen Bruder in Warschau zurückgelassen hat. Er hat sie nur halbherzig aufgefordert, ebenfalls nach Argentinien zu emigrieren, was ihn zunehmend bedrückt. Die Briefe seiner Mutter, die ihn über die sich verschlechternden Lebensverhältnisse in Polen und später über das Leben im Warschauer Ghetto informieren, verschweigt er seiner Frau. Die Ängste und das schlechte Gewissen rauben ihm den Schlaf. Diese Gefühle von Ohnmacht und Schuld treiben ihn zunehmend in eine innere Isolation. Er zieht sich von seiner Familie zurück, verstummt und verbringt seine Nächte auf endlosen Stadtwanderungen und vermehrt beim Pokern. Aber seine Frau Rosita, die ihn immer noch liebt, gibt ihn nicht auf und kämpft um die Familie…

Ein berührender Roman.

Edith Oertig 

 

Ludger Wess: Winzig, zäh und zahlreich

Sachbuch, Matthes & Seitz Berlin 2020

Einige überleben radioaktive Strahlung, andere lieben Schwermetalle (auch giftige). Sie gedeihen bei 85 Grad Celsius, überleben im eisigen Weltraum und finden sich noch 5 Km tief in der Erdkruste - die Bakterien. Sie haben so fantasievolle Namen wie Janibacter hoylei, Deinococcus radiodurans oder Methanopyros kandleri. Manchmal weisen die Namen auf Herkunft oder eine Strategie eines Bakterium hin, manchmal sind sie auch nur willkürlich gewählt wie bei Propionibacterium acnes zappae, welches den Rockmusiker Frank Zappa ehren soll.

Aber vor allem sind Bakterien zahlreich. Und die Erde ist ihr Planet und bisher haben sie als einzige jede erdgeschichtliche Katastrophe überlebt. Sie leben überall auf der Erde in der Luft im Wasser und in der Erde. Es gibt sie in der Wüste, genauso wie auf dem Gipfel des Himalaya, in Säuren und Laugen. Sie bevölkern sogar das Innere von Atomreaktoren. Unter ihnen gibt es Hungerkünstler, die in destilliertem Wasser Jahrzehnte überleben, und Arten, die Schwermetalle lieben oder Öl abbauen können.14000 verschiedene Bakterienartenarten sind bekannt.

50 teils skurile Vertreter - unterteilt in die Sparten Rekordhalter, Spannbreite des Lebens, Technische Biotope, Exotische Ernährung, nützliche Helfer und Bedrohungen - stellt Ludger Wess in seinem Buch vor.  Man erfährt sehr  viel Wissenswertes über ein Lebewesen, das uns nicht nur krank macht, sondern das wir vor allem zum Überleben brauchen. Es ist spannend und unterhaltsam geschrieben und auch für Nicht-Wissenschaftler sehr gut lesbar. Ich empfehle dieses wunderschön gestaltete Buch allen, die etwas über die bedeutendste Spezies auf unserem Planeten wissen möchten.

Brigitta Häderli

 

Marie Hermanson: Der Sommer, in dem Einstein verschwand

Roman, Insel Verlag, 2020

1923, Göteborg feiert mit einer grossen Ausstellung sein dreihundertjähriges Gründungsjubiläum. Die Stadt befindet sich in einer aufgeladenen Atmosphäre, voller Euphorie und Erwartungen. Ein grosser Vergnügungsparkt wird aufgebaut, Restaurants und Kioske, Hallen um die neuesten technischen Erfindungen vorzuführen und auch ein Kunstmuseum.

Ellen eine junge Journalistin ergattert sich ihren ersten Job bei der Ausstellungs-Zeitung. Dabei ist  auch Otto, der mit seinem Esel Kinder durch den Vergnügungspark führt. Ellen lernt bei ihren Recherchen den jungen Polizisten Nils Gunnarson kennen, den sie eines Nachts alarmiert, als sie eine unheimliche Entdeckung macht.

Zur gleichen Zeit sitzt Albert Einstein in seinem Berliner Arbeitszimmer. Er wird zunehmende von rechten Kreisen, als Wissenschafter und Jude, beschimpft und bedroht. Er beschliesst trotzdem nach Göteborg zu reisen, um dort seine verspätete Nobelpreis-Vorlesung zu halten. Doch unterwegs werden ihm teils lebensgefährliche Hindernisse in den Weg gelegt.

Ein vergnüglicher Roman, ein bisschen Krimi, ein bisschen Liebesgeschichte, schnell und turbulent mit zeitgeschichtlichem Hintergrund.

Edith Oertig

 

Liz Moore: Long Bright River

Roman, C.H. Beck Verlag, 2020

Philadelphia, USA. Mickey ist Streifenpolizistin, zur Zeit mehrheitlich allein im Dienst unterwegs. Ihr Partner wurde im Dienst schwer verletzt. Sie ist Mutter eines fünfjährigen Sohnes, den sie alleine aufzieht. Sie hat eine Schwester Kacey. Diese ist drogenabhängig und arbeitet als Prostituierte. Seit fünf Jahren sprechen sie nicht mehr miteinander. Doch Mickey behält Kacey im Auge, passt auf sie auf, versucht sie zu beschützen. Plötzlich verändert sich alles. Frauen werden ermordet und Mickey findet ihre Schwester nicht mehr auf den Strassen der Blocks auf denen Kacey anschaffen geht. Wo ist sie? Mickey macht sich auf die Suche...

Nein, dies ist kein Thriller, es ist ein Roman, aber ein sehr spannender. Es geht es vor allem um Beziehungen: Mickey zu Kacey, die Schwestern zu ihrer Grossmutter, Mickey zu ihrem Sohn, Kacey zu ihrem Freund, Mickey zu ihrem verletzten Arbeitskollegen. Was ist Familie, wo ist man daheim, wann hört Freundschaft auf. Mit Abschweifungen in die Vergangenheit erfährt man die Geschichte einer Familie, die wohl symptomatisch ist für eine Gesellschaft in der Krise.

Und mittendrin ein Portrait von Philadelphia, der Stadt in welcher am am 4. Juli 1776 die Unabhängigkeitserklärung beschlossen und verkündet wurde.

Spannende Familienstory, ein wenig Geschichte und ein aktueller Blick auf das Leben und die Probleme in einer Amerikanischen Stadt - ein tolles Leseerlebnis.

Brigitta Häderli

 

Patrik Svensson: Das Evangelium der Aale

Skandinavische Geschichte, Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, 2020

Einen grossen Teil seiner Kindheit verbrachte der Patrik Svensson an der schwedischen Aalküste. Nie in seiner Kindheit fühlte sich der Autor seinem Vater näher als beim Aalfischen. Als Erwachsener stellt er fest: Der Erinnerung an seinen Vater kommt er nicht auf die Spur, ohne nach dem Fisch zu suchen, der sie miteinander verband.

Einen grossen Teil des Buches nimmt jedoch der Aal mit seiner Geschichte ein. Schon vor Jahrhunderten befassten sich Menschen mit der Herkunft und Fortpflanzung der Aale. Gekonnt verknüpft er diese Erlebnisse mit Informationen zu diesem mysteriösen Tier, das der Wissenschaft bis heute Rätsel aufgibt.

Das Buch wechselt zwischen Autobiografie und Sachbuch, macht Umwege über Geschichte, Literatur, Religion und Psychologie.

Jacqueline Rutishauser-Eschenmoser

 

Graham Swift: Da sind wir

Roman, DTV Verlag, 2020

Ronnie Dean wird während des Krieges, wie auch viele andere Kinder, aufs Land in Sicherheit gebracht. Er kommt zum kinderlosen Ehepaar Lawrence, die ihn mit viel Liebe und Verständnis für die nächsten Jahre bei sich aufnehmen. Eric Lawrence tritt ab und zu mit seiner Zaubershow auf, und bringt Ronnie die Geheimnisse der Zauberei näher.

Jahre später lernt Ronnie beim Militär Jack Robbins kennen, den geborenen Entertainer. Ende der fünfziger Jahre beschliessen die beiden nach Ruhm strebenden jungen Männer ins Showgeschäft einzusteigen. Ronnie sucht sich, auf Anraten von Jack, eine Assistentin, die etwas Glamour in ihre Show bringt. Sie werden als «Pablo und Eve» zu den grossen Stars auf dem Pier von Brighton. Als Eve sich auf eine Affäre mit Jack einlässt, verschwindet Ronnie am Ende einer Aufführung. Es ist als könnte er wirklich zaubern…

Graham Swift erzählt diese Geschichte über die Magie im Leben mit viel Gespür, Witz und Leichtigkeit. Ein echtes Lesevergnügen!

Edith Oertig

 

Natasha Lester: Die Kleider der Frauen

Roman, Aufbau Taschenbuch, 2020

Paris 1942: Die junge Estella arbeitet zusammen mit ihrer Mutter im Atelier von Monsieur Aumont als Schneiderin. Estella träumt davon eines Tages ihre eigene Kollektion zu designen. Aber der Krieg und die Besetzung durch die Deutschen werfen bereits Schatten auf Frankreich. Als Estella ungewollt in eine Mission der Résistance verwickelt wird, muss sie aus ihrer Heimatstadt fliehen. Ihre Flucht führt sie nach Amerika, wo sie unermüdlich versucht ihren Traum als Modedesignerin zu verwirklichen.

Paris 2015: Der zweite Handlungsstrang wird aus der Sicht von Fabienne erzählt, der Enkelin von Estella, die deren Modeimperium erbt und nach und nach die tragische Geschichte ihrer Familie aufdeckt.

Ein wundervoller Roman um eine junge Frau, die ihr eigenes Label aufbaut, in einer Zeit, in der Frauen noch nicht gerne als Unternehmerinnen gesehen werden.

Jacqueline Rutishauser-Eschenmoser

 

Imogen Kealy: Die Spionin

Romanbiografie, Rütten & Löning, 2020

1940 war Frankreichs Norden von den Deutschen besetzt. Der Süden war frei und es agierten dementsprechend viele Menschen im Widerstand. Auch die Neuseeländerin Nancy Wake riskiert täglich ihr Leben für die Résistance. Ihre Schönheit und ihre glamouröse Erscheinung werden zur besten Tarnung der „Weissen Maus“, auf die ein Kopfgeld in Millionenhöhe ausgesetzt ist - denn die Nazis vermuten dahinter stets einen Mann.

Als Nancys Mann Henri verhaftet wird, flieht Nancy nach England und lässt sich zur Geheimagentin ausbilden. Mit dem Fallschirm gelangt sie zurück in die Wälder der Auvergne und übernimmt die Führung von über 7000 Partisanen. Nancy Wake kämpft unter grossem persönlichem Einsatz für die Befreiung von Frankreich.

Nancy Wake war die höchstdekorierte weibliche Militärangehörige der Alliierten. Dieser Roman beruht auf einer wahren Begebenheit.

Jacqueline Rutishauser-Eschenmoser

 

 

Nickolas Butler: Ein wenig Glaube

Roman Klett-Cotta, 2020

Lyle und Peg Hovde empfinden es als ein grosses Glück, dass ihre Tochter Shiloh mit ihrem fünfjährigen Sohn Isaac zu ihnen nach Wisconsin zurückkehrt. Ihre Adoptivtochter hatte sich früh von ihnen abgewandt und hat über Jahre kaum mehr etwas von sich hören lassen.

Lyle und Peg geniessen ihr Grosselternglück. Lyle verbringt viel Zeit mit seinem Enkel in der Natur, gibt ihm viele Anregungen, und begegnet ihm mit viel Liebe und Verständnis. Dieses Familienglück ist jedoch nur von kurzer Dauer. Shiloh schliesst sich einer radikalen Glaubensgemeinschaft an und schottet sich erneut von ihren Eltern ab. Die beobachten das Geschehen in dieser Sekte, in die auch Isaac immer mehr hineingezogen wird und der gar als Heiler instrumentalisiert wird. Was tun? Der Tochter Verständnis entgegenbringen, oder es erneut zum Bruch kommen zu lassen?

Mit viel Einfühlungsvermögen nähert sich der Autor dem Thema. Welche Macht hat der Glaube, wann muss man die Menschen vor dem Glauben schützen? Er zeigt die Situation im heutigen Amerika, wie quer durch alle Schichten auch die Politik beeinflusst wird. Ein vielschichtiger Familienroman, eingebettet in Zeitgeschichte.

Edith Oertig

 

Alex Beer: Unter Wölfen

Krimi, Limes Verlag 2019

Nürnberg 1942 - Der jüdische Buchantiquar Isaak Rubinstein erfährt, dass er und seine Familie deportiert werden sollen. In seiner Not wendet er sich an seine ehemalige Freundin Clara, die im Widerstand gegen das Naziregime organisiert ist. Diese hilft Isaaks Familie unterzutauchen. Im Gegenzug muss Isaak für Clara einen brisanten Auftrag ausführen.

Der ahnungslose Buchantiquar findet sich plötzlich in der Rolle des Sonderermittlers Adolf Weissmann wieder, der eine Mordermittlung durchführen soll. Dumm nur, dass die Tote, eine deutsche Schauspielerin, ausgerechnet im Hauptquartier der Nürnberger Gestapo liegt.Nebst der Mordaufklärung, muss sich Isaak auch noch um seine Hauptaufgabe kümmern. Er muss herausfinden, wo sich die wichtigen Dokumente befinden, die der Widerstand benötigt.

Was Isaak zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiss: In einem Spitalbett erwacht ein etwas desorientierter Mann, der behauptet Adolf Weissmann zu sein...

Jacqueline Rutishauser-Eschenmoser

 

Delphine de Vigan: Dankbarkeiten

Roman, DuMont, 2020

Michka hat stets ein unabhängiges Leben geführt, jetzt muss sie feststellen, dass sie nicht mehrt alleine leben kann.. Albträume verfolgen sie. Sie wird zunehmend ängstlich und die Wörter kommen ihr abhanden; sie ersetzt sie teilweise durch ähnlich klingende.

Die junge Marie, der sie in der Vergangenheit eine Art Ersatzmutter war, kümmert sich um Michka und sucht ihr einen Patz in einem Seniorenheim. Dort fühlt sie sich sehr einsam, tut sich schwer mit der vorgegebenen Ordnung und dem Verlust ihrer Selbstständigkeit.

Die einzigen Lichtblicke sind die Besuche von Marie und die des Logopäden Jérôme, der sie einmal pro Woche besucht, um sich mit ihr zu unterhalten und Sprachübungen zu machen. Ihm und Marie vertraut sie an, dass sie noch einen dringenden Wunsch hat, nämlich das Ehepaar zu finden, das ihr während des Krieges das Leben gerettet hat, um ihnen dafür zu danken.

Ein wunderbares Buch über das Alter, über Menschlichkeit und über das, was am Ende bleibt: Zuneigung, Mitgefühl und Dankbarkeit.

Edith Oertig

 

Christa Lefteri: Das Versprechen des Bienenhüters

Roman, Limes Verlag, 2019

Nuri ist Bienenzüchter und lebt mit seiner Frau Afra, einer erfolgreichen Malerin, und dem gemeinsamen Sohn Sami im syrischen Aleppo. Nuri liebt seinen Beruf und ist sehr glücklich mit seinem Leben.

Doch der Krieg zerstört alles. Sami kommt bei einem Bombenanschlag ums Leben und Afra verliert dabei ihr Augenlicht.Als das Militär Nuri abholen will, um ihn für die Armee zu verpflichten, flieht der junge Mann mit seiner blinden Frau Hals über Kopf. Nuri versucht mit Afra nach England zu kommen, denn dorthin hat es auch sein Vetter Mustafa geschafft.

Der Leser begleitet das syrische Ehepaar auf ihrer beschwerlichen, gefährlichen Reise ins Ungewisse.Werden die Zwei ihr Ziel in England erreichen und wird die Liebe zueinander stark genug sein, um nicht am tragischen Verlust ihres Sohnes zu zerbrechen?

Jacqueline Rutishauser-Eschenmoser

 

Silke Knäpper : Das Lieben der Anderen

Roman, Klöpfer & Meyer, 2018

Helen beobachtet eines Nachts, wie eine Frau von einem Balkon stürzt  und  tot liegen bleibt. Sie bleibt gebannt am Fenster stehen, sieht kurz darauf einen elegant gekleideten Mann aus der Haustür treten, einen Blick auf die Tote werfen und schnellen Schrittes davongehen. Die heimliche Beobachterin geht auf die Strasse, sieht sich die Tote an, eine schöne Frau, greift ungerührt in deren Manteltasche, und nimmt den  Hausschlüssel an sich.

Helen, die alleine lebt, sich vom Leben betrogen fühlt, dünn und unattraktiv, spürt  plötzliche eine unheimliche Energie in sich, die ihr weiteres Leben verändern wird. Bald findet sie heraus, wer diese nächtliche Gestalt ist; Simon, Psychoanalytiker. Sie nähert sich ihm und dringt immer mehr in sein Leben ein. Sie weiss, dass sie endlich aus dem Schatten treten und eine wichtige Rolle in dessen Leben spielen wird…

Edith Oertig

Lempi, das heißt Liebe - Minna Rytisalo

Roman,  Hanser, 2018

Viljami lebt und arbeitet als Bauer in Lappland zur Zeit des 2. Weltkriegs. Als er in der kleinen Stadt Rovaniemi Lempi erblickt, die Tochter eines Ladenbesitzers, verliebt er sich sofort in sie. Kurz darauf heiraten die beiden und Lempi zieht zu Viljami auf den Hof. Als Unterstützung für Lempi holt er die Magd Elli ins Haus. Doch das kleine Glück währt nur einen Sommer, dann wird Viljami zum Kriegsdienst eingezogen. An der Front erfährt Viljami, das Lempi Schwanger ist, das sie mit einem Deutschen durchgebrannt ist, das sie tot ist. Wer aber war Lempi wirklich?

Viljami berichtet von der ersten Begegnung, der Hochzeit und vielen glücklichen Momenten, von seinem Abschied,von sehnsuchtsvollen Briefen und der Zeit im Lazarett. In jedem Wort von Viljami spürt man seinen Schmerz und seine Trauer um eine verlorene Liebe und wie bittersüß jede einzelne Erinnerung an Lempi für ihn ist. Die Magd Elli ist mit Lempis Söhnen – der eine leiblich, der andere aufgenommen – auf dem Hof. Sie wartet auf die Rückkehr Viljamis, der endlich erkennen soll, dass eigentlich sie die richtige Frau für ihn ist. Ihre brennende Eifersucht auf Lempi ist mehr als offensichtlich. Was weiß sie über ihren Verbleib?

Sisko, die Schwester,  erinnert sich insbesondere an die Zeit vor Lempis Hochzeit, als die beiden noch im selben Zimmer schliefen und sich die Zukunft ausmalten. Siskos verliebt sich in einen Deutschen und ihr Schicksal ist exemplarisch für das vieler Frauen aus Lappland, die sich in einen Ausländer verliebten. Trotzdem bleibt ihr Weg eng mit Lempis Geschichte verknüpft.

Jeder der drei Erzählenden hat ein ganz anderes Bild von Lempi und es bleibt dem Leser überlassen, sich aus den sehr persönlichen Beschreibungen ein möglichst objektives Bild von dieser abwesenden Figur zu machen. Das Cover zeigt hinter dem Titel eine Frau mit rotem Oberteil und grünem Rock. Sie tritt vor dem weißen Hintergrund deutlich heraus, ist aber nur verschwommen zu erkennen. Das könnte ein Sinnbild für die Abwesenheit Lempis sein, die in diesem Buch die zentrale Rolle spielt, ohne selbst zu Wort zu kommen.

 Mich überzeugte der Roman vor allem mit seiner emotionalen Wucht, die mich beim Lesen dieser stillen Handlung traf.

Brigitta Häderli

 

Barbara Landes: Die Ballade vom Wunderkind Carson McCullers

Roman, ebersbach & simon, 2016

Carson McCullers wird 1917 als Lula Carson in Columbus, Georgia, geboren. Als musikalisches Wunderkind soll sie berühmt werden und den Familiennamen Smith weit über die Kleinstadt Columbus hinaus tragen. So jedenfalls sind die Pläne ihrer Mutter. Doch der Vater schenkt seiner begabten Tochter eine rote Schreibmaschine. Nie wieder wird jemand sie künftig Lula Carson nennen. Sie ist Carson Smith und will Schriftstellerin werden. Sie geht nach New York, lernt Reeves McCullers kennen und lieben. Die beiden heiraten und schliessen einen Pakt: Reeves hält seiner Frau den Rücken frei fürs Schreiben und nach einem Jahr wollen sie die Rollen tauschen. Mit 23 schreibt Carson ihren ersten Roman " Das Herz ist ein einsamer Jäger" und wird damit über Nacht berühmt.

 Sie lernt Klaus und Erika Mann in deren amerikanischen Exil kennen, verliebt sich in Annemarie Schwarzenbach und trennt sich von ihrem Mann. Zusammen mit anderen Künstlern gründet sie die Künstlerkommune "Das Februarhaus". Die Erfolge als Schriftstellerin häufen sich in dem Masse, wie es Carson gesundheitlich schlechter geht. Als Ben Jackson, die einzige, fiktive Figur in Barbara Landes Roman, Carson zum ersten Mal trifft, ist sie 33-jährig, gezeichnet von drei Schlaganfällen aber eine gefeierte Autorin. Ihm diktiert sie ihre Autobiografie. Der erste Satz lautet: "Mein Leben war, dem Himmel sei Dank, fast vollständig ausgefüllt mit Liebe und Arbeit.“

Barbara Landes erweist sich als fundierte Kennerin von Carsons Biografie. Sie schreibt spannend und einfühlsam über die grosse amerikanische Autorin und die Künstlerszene der 30-er und 40-er Jahre in New York. Sie scheint selber dort gelebt zu haben, im "Februarhaus", Tür an Tür mit Carson McCullers, Wyston H. Auden, Tennessee Williams und vielen anderen Künstlern. Sie alle sind geniale Geister. Ihre Begabung ist oft Segen und Fluch zugleich.

Wer gerne fiktionale Biografien liest, bei denen Dichtung und Wahrheit nahe zusammen sind, wird von Landes Roman begeistert sein.

Mariette Zaugg

 

Elizabeth Strout:  Die Unvollkommenheit der Liebe


Roman, Luchterhand, 2016

Lucy Barton, die Ich-Erzählerin, schaut zurück: Es sind die frühen achtziger Jahre, Handy und Internet sind in den Anfängen. Nach einer Blinddarmoperation legt ein Erreger Barton lahm. Sie verbringt neun lange Wochen im Krankenhaus. Eine Freundin begleitet die beiden Töchterchen, die fünf und sechs Jahre alt sind, ins Spital zu ihrer Mutter. Ihr Mann, sagt Lucy, hält es nicht aus im Krankenhaus, eine Umschreibung ihrer Ehe, die kriselt.

Da plötzlich taucht wie ein Nachtmahr Lucys Mutter am Spitalbett auf. Beide haben sich viele Jahre nicht gesehen. Fünf Tage wird sie bei ihrer Tochter bleiben und Geschichten von früher erzählen. Fünf Tage, in denen Mutter und Tochter über die alten Zeiten reden, von Lucys Kindheit in Illinois, die geprägt war von grosser Armut und wenig Zärtlichkeit. In der Abgeschiedenheit des Spitalzimmers, das hell erleuchtete Chrysler Building vor Augen, kommen sich Mutter und Tochter nahe wie nie zuvor. Trotzdem kann die Mutter nicht sagen, dass sie ihre Tochter mag und stolz auf sie ist, die als erfolgreiche Schriftstellerin ihren Weg geht.

Die Unvollkommenheit der Liebe, im Original „My name is Lucy Barton", ist Lucys Geschichte und nicht diejenige von Elizabeth Strout. Lucy staunt über ihr Leben und ihre Ohs! sind so zahlreich, dass der Roman nahe am Kitsch ist, doch nie kitschig wird. Dafür kennt Strout ihr Metier als Autorin zu gut. Es ist eine abgerundete Geschichte über eine Mutter-Tochter-Beziehung, das Leben in Amerikas Unterschicht und über das versöhnt Sein mit dem eigenen Schicksal.

                                                                                 Mariette Zaugg

 

Rosa Ribas / Sabine Hofmann: Die grosse Kälte

Roman, Kindler Verlag, März 2016

Barcelona, Winter 1956. Ana Martí, eine begabte junge Journalistin wird in ein abgelegenes Bergdorf geschickt, um über ein Mädchen mit Stigmata an Händen und Füssen zu schreiben. Von den Dorfbewohnern wird Isabel als Heilige verehrt und als Ana anfängt Fragen zu stellen trifft sie auf kollektives Schweigen. Sogar ein Zusammentreffen mit dem Mädchen wird ihr verweigert. Als der grosse Schnee kommt und Ana und die Dorfbevölkerung einschneit, wird schnell klar, dass sich unter der Schneedecke noch viel mehr verborgen hält, als eine Heilige.

Der neue Fall für die Journalistin Ana Martí, die im Spanien der Franco-Zeit ermittelt, besticht durch seine atmosphärische Dichte. Man sieht das Dorf in all seiner Düsterheit vor sich, spürt das Misstrauen der Dörfler und die Kälte des Schnees.  Der beste Kriminal-Romane, den ich in der letzten Zeit gelesen habe.  In El Mundo heisst es dazu: Originell, authentisch, süchtig machend. Dem kann ich nur zustimmen.

Rosa Ribas wurde 1963 in Barcelona geboren und studierte an der dortigen Universität Hispanistik. Sie lebt seit 1993 in Frankfurt. Vor zwei Jahren gab sie ihre Universitätslaufbahn zugunsten des Schreibens auf.
Sabine Hofmann, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanische Sprachen und Literaturen der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main.

Brigitta Häderli

Blanca Imboden: Schwingfest

Roman, Wörthersee Verlag, Mai 2016

Blanca Imboden zum Zweiten. Bea, von Beruf Journalistin muss für ein Frauenmagazin einen Bauern interviewen, der sich in voller Schönheit im Bauernkalender präsentiert. Bea verliebt sich auch prompt in Sämi. Der weiss ganz genau, was er will: nicht sie, eine  Journalistin in Stögelischuhen, sondern eine richtige Bäuerin, die mit ihm auch aufs Schwingfest geht. Bea aber behält einen kühlen Kopf und versucht mit List sein Herz zu erobern. Als Bäuerin klappt es sicher nicht, aber vielleicht ja übers Schwingen ...

Einmal mehr ist Blanca Imboden ein humorvoller und doch überraschender Roman gelungen, bei dem man (Frau) auch noch einiges übers Schwingen lernen kann. Und dieses Wissen hat sich die Autorin nicht etwa aus dem Internet geholt, ganz im Gegenteil: Blanca Imboden wurde von keinem geringeren als dem Leimbacher Adi in die Geheimnisse des Schweizer Nationalsportes eingeführt. Dazu gehört natürlich auch der Besuch eines Schwingfestes. Und so sind wohl die eine oder andere Szene im Buch ein echter Augenzeugenbericht.

 

Blanca Imboden: Matterhörner

Roman, Wörtherseh Verlag, Sommer 2015

Wir möchten  Ihnen den Roman "Matterhörner" der Schweizer Bestseller-Autorin als Leseempfehlung für sonnige Frühlingstage vorstellen.

Antonia eine Innerschweizer Seilbähnlerin, die bei der Morschach-Stoos-Bahn arbeitet, erbt von Ihrer verstorbenen Schwester Mona 40 gemalte Bilder, alle mit demselben Motiv: Das Matterhorn in allen Variationen. Mona, die in Spanien lebte, hat diese Bilder gezeichnet, gemalt und skizziert, in Kreide Öl und Acryl. Antonia steht vor einem Rätsel, jahrelang hatten  die Schwestern keinen Kontakt zueinander und jetzt diese Erbschaft. Um das Geheimnis um die 40 „Matterhörner“ zu lösen, reist Antonia kurz entschlossen nach Zermatt und sieht bald darauf zum ersten Mal in Ihrem Leben den „Berg der Berge“, das „echte“ Matterhorn, dessen Schönheit sie sofort erliegt. Bei Ihren Nachforschungen stösst sie auf einige gletschertiefe Abgründe, auf einen Schurken und schliesslich auf Bruno. Als sie des Rätsels Lösung endlich findet, gibt ihr Letzterer ein neues, weit schöneres, auf.

Das Buch ist, wie alle Bücher von Blanca Imboden leicht und locker geschrieben und liefert spannende, aber auch berührende Momente. „Matterhörner“ bietet gut gemachte Unterhaltung und ist  eine ideale Freizeit- und Ferienlektüre, die man zwar in Zermatt aber eben auch überall geniessen kann.

                                             Brigitta Häderli

 

Jessi Kirby: Mein Herz wird dich finden

All-Age-Roman, Sauerländer, Februar 2016

„ Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.“ – Blaise Pascal

Vor 400 Tagen ist Mias grosse Liebe Jacob bei einem Autounfall verunglückt und gestorben....

Vor 400 Tage bekam Noah ein neues Leben - ein Herz geschenkt...

Zwei Schicksale die nicht unterschiedlicher sein können und doch sehr miteinander verbunden sind. Mia findet Trost bei dem Gedanken, dass Jacobs Organe Leben retten und schreibt den Empfängern Briefe. Diese nehmen mit Mia Kontakt auf und es kommt zu einem Treffen. Nur der eine Empfänger, der für Mia am wichtigsten, schreibt ihr nicht zurück und möchte auch keinen Kontakt. Er möchte nicht wissen, wessen Herz er bekommen hat. Mia ist fest davon überzeugt, wenn sie Jacobs Herz findet, kann sie mit seinem Tod abschliessen und so macht sie sich auf die Suche nach dem Empfänger des Herzens.  Noah weiss nicht wer das geheimnisvolle Mädchen ist, welches sich an einem Kaffee verschluckt, den Kaffeebecher auf den Boden fallen lässt, eilig das Kaffee verlässt und prompt noch einen kleinen Unfall macht. Er spürt eine Verbundenheit und eine Traurigkeit. Er muss ihr einfach helfen.

Mich hat der Roman von der ersten Seite an sehr berührt. Das Thema Organspende wurde einfühlsam verpackt. Die Geschichte wird aus Sicht von Mia erzählt und ich fühlte mit ihr aber auch mit Noah. Besonders gut gefallen hat mir, dass der Anfang eines Kapitels immer mit einem Zitat, Gedicht oder einem Auszug beginnt und diese sich wunderbar in die Geschehnisses einfügten. Ebenfalls schön fand ich, dass sich die Geschichte sehr flüssig liest.

Daniela Schindler

Isabel Bogdan: Der Pfau

Roman, Kiepenheuer&Witsch, Februar 2016

Diese charmante Komödie spielt auf einem etwas heruntergekommenen Landsitz in den schottischen Highlands. Hauptprotagonist ist ein Pfau, der verrückt spielt und alles angreift, was blau ist. Und dies ausgerechnet als Chefbankerin Liz mit ihrem vierköpfigen Team, einer ambitionierten Psychologin und einer schwungvollen Köchin den Westflügel des Landsitzes für ein Teambuilding-Wochenende gebucht hat. Ein verrückter Pfau, ein spartanisches Ambiente und ein spontaner Wintereinbruch sorgen dafür, dass das Wochenende ganz anders verläuft, als es von den Bankern geplant war. Und mittendrin Lord und Lady McIntosh, die Grundbesitzer und Vermieter. Die pragmatische Problemlösung durch Lord McIntosh setzt ein urkomisches Geschehen in Gang, das die Beteiligten an ihre Grenzen führt und sie einander näherbringt.

Isabel Bogdan, preisgekrönte Übersetzerin englischer Literatur, erzählt in ihrem ersten Roman eine sehr britische Komödie,  pointenreich und witzig.  Die  Figuren sind liebevoll gezeichnet und die Charakteren sehr gut spürbar. Die turbulente Handlung überrascht immer wieder mit neuen Entwicklungen und macht einfach Spass beim Lesen. Das Buch bietet gute Unterhaltung für Frauen und Männer.

                                                                                                 Brigitta Häderli

Péter Gárdos: Fieber am Morgen

Roman, Hoffmann und Campe, Oktober 2015

Der Ungar Miklós hat das KZ Bergen-Belsen überlebt. Nur noch Haut und Knochen, ohne Zähne und schwer Lungenkrank kommt er nach Schweden. Der Arzt im Krankenhaus gibt ihm noch 6 Monate. Doch Miklos will Leben, glaubt an eine Zukunft mit Frau und Kind und bittet den Arzt um Adressen von Ungarinnen im heiratsfähigen Alter, die sich ebenfalls in Schweden aufhalten. Er bekommt 117 Adressen und schreibt 117 mal den gleichen Brief. Einige schreiben zurück, darunter Lili...

Ein Buch, das berührt, das vor Lebenswillen nur so strotzt, das das Leben bejaht und Liebe möglich ist, egal, wie hart das Schicksal zuschlägt. Und es ist ein Tatsachenroman, denn der Autor dieses Buches ist kein anderer als Miklós Sohn...?

Unbedingt lesenswert!

                                                                                                                               Brigitta Häderli

                                                                                                                                          

 

 

Angelika Waldis: Marktplatz der Heimlichkeiten

Roman,Europa Verlag Zürich, Juli 2015

Man kennt die Situation: man steht irgendwo inmitten von Menschen, die an einem vorbeigehen. Für einen kurzen Augenblick sehen sie die Gesichter der vorbeigehenden und ihnen wird bewusst, dass sie alle eine Geschichte mit sich tragen, ein Meer aus Geschichten wabert um sie und manchmal durch sie hindurch. Angelika Waldis Irgendwo ist ein Medienhaus in einer grossen Stadt, mitten im Umbruch. Arbeitsplatz von Erfolgreichen, Gestressten, Gestrandeten, Getriebenen, Verborgenen... In über zwei Dutzend Scheinwerferlichtern leuchtet die Autorin das Innenleben in allen Etagen des Hauses aus, zusammengehalten von den Beobachtungen der Volontärin, die immer mehr Fäden im Gespinst entdeckt.

 Angelika Waldis ist eine grossartige Beobachterin und breitet einen kunstvoll durchwebten "Flickenteppich" aus. Jeder Faden allein wäre ein Roman für sich! Konzentriert und verdichtet, mit Sprachwitz und grosser Empathie - beeindruckend.

                                                                                    Gallus Frei